Über den Wolken

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# Aus der Gemeinde ...

Über den Wolken

Ich sitze im Flugzeug; vor der Landung müssen wir noch ein Formular fürs Gesundheitsministerium ausfüllen. Als ich damit fertig bin, fragt mich meine Nachbarin, eine junge Frau, ob ich ihr meinen Stift leihen kann.  

Etwas zögernd gebe ich ihr den Kuli. Erfahrungsgemäß gehen Stifte, die man verleiht, leicht verloren, und es ist mein Lieblingskuli. Ich muss unbedingt darauf achten, dass sie ihn mir zurückgibt. Aber sie nimmt sich Zeit beim Ausfüllen, und ich muss mich selbst immer wieder an die Sache mit dem Kuli erinnern. Bald bin ich genervt, dass ihre Langsamkeit mich dazu zwingt, mich fortwährend unter Druck zu setzen. Ich verspüre leisen Groll: Warum gibt sie ihn nicht zurück, und zwar sofort?  

Dann halte ich plötzlich inne. Ist das, was ich da mache, wirklich nötig? Der Kuli ist zwar mein Lieblingskuli, aber er ist nicht existenziell. Ich mag ihn, aber es wird mir bewusst: Ich kann ohne ihn leben.  

Und dann treffe ich eine Entscheidung: Ich werde die Frau nicht daran erinnern, dass sie mir den Kuli zurückgibt. Ich überlasse es ihr und gebe ihr damit auch die Freiheit, ihn zu behalten. Wer weiß – vielleicht braucht sie ihn ja sogar mehr als ich? Vielleicht ist er bei ihr besser aufgehoben?  

Und auf einmal wird mir ganz leicht zumute. Ich muss nicht mehr ständig daran denken, wie ich meinen Stift zurückbekomme. Ich habe die Kontrolle aus der Hand gegeben, brauche mich nicht mehr zu kümmern. Mein Groll ist auch weg; ich werde es meiner Nachbarin nicht mehr übelnehmen, wenn sie ihn behält. Ich habe mich von meinem Lieblingskuli verabschiedet.  

Ich lehne mich zurück und genieße für den Rest des Fluges meine neu gewonnene Freiheit.

Ihre
Regina Schlingheider

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