»Liebet eure Feinde!«

»Liebet eure Feinde!«

»Liebet eure Feinde!«

# Aus der Gemeinde ...

»Liebet eure Feinde!«

»Liebet eure Feinde!« sagt Jesus. Aber wer bringt das fertig? Ist das nicht eine unmenschliche Forderung? Neulich las ich »Middlemarch«, einen Roman von George Eliot, der im 19. Jahrhundert in England spielt.

Die junge Gutsherrin Dorothea spricht mit dem Arzt Lydgate über ein neues Krankenhaus. Zunächst ist das Gespräch rein geschäftlich. Aber Lydgate steht im Verdacht, von einem reichen Bürger bestochen worden zu sein und den Tod eines seiner Patienten mit verschuldet zu haben; die ganze Stadt ist gegen ihn. Und schließlich vertraut er Dorothea an, dass er selbst mit seiner eigenen Frau nicht über diese Sache sprechen kann - weil sie nicht mehr miteinander reden. Dorothea, die an seine Unschuld glaubt, schlägt vor seine Frau zu einem Gespräch aufzusuchen. Als sie ein paar Tage später in das Haus der Lydgates kommt, überrascht sie die Frau des Arztes mit einem jungen Mann, Will, von dem sie eigentlich dachte, dass er sie, Dorothea, liebt, in einer ziemlich eindeutigen Situation. Alle drei sind erschrocken; Dorothea verlässt das Haus, zutiefst verletzt und erschüttert. Sie weint die ganze Nacht um ihre verlorene Liebe.

Aber sie will ihr Versprechen halten und macht sich am nächsten Tag wieder auf den Weg, obwohl ihr das unglaublich schwer fällt. Und in der Szene, wo diese beiden Frauen miteinander sprechen, spürt man deutlich, wie Dorothea sich immer wieder innerlich überwinden muss, aber dann doch einen Weg zum Herzen der anderen Frau findet. Diese ist zunächst schüchtern und verschlossen, merkt dann aber, dass Dorothea ihr wohlgesonnen ist, kann ihr zuhören und ihren Rat annehmen. Und dann, als sie vertrauter miteinander sind, erzählt sie Dorothea, dass zwischen Will und ihr nichts vorgefallen ist und dass sie weiß, dass er nur Dorothea liebt. So kommt es zu einem wunderbaren Happy End.

Ich liebe diese Geschichte, weil sie so deutlich zeigt, wie Dorothea nicht bei ihrer Verletzung stehen bleibt. Eigentlich hätte sie die Frau des Arztes als ihre Feindin betrachten müssen. Aber sie kann von sich selbst absehen, weil ihr die Aufgabe, die sie zu übernehmen versprochen hat, wichtiger erscheint als ihr eigenes Verletzt sein. Und so kann sie ihrer Feindin Gutes tun und deren Ehe retten. Und außerdem noch ihr eigenes Glück.

Vielleicht fordert Jesus uns auf unsere Feinde zu lieben, weil es nicht nur gut für den Feind ist, sondern auch für uns? Weil wir, wenn wir von uns selbst absehen können, beschenkt werden? Vielleicht ist seine Aufforderung ja gar nicht unmenschlich, sondern will uns den Weg zeigen zu unserem eigenen Glück?

Ihre
Regina Schlingheider

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