02/07/2024 0 Kommentare
Die Weihnachtsgeschichte als Widerstandsgeschichte
Die Weihnachtsgeschichte als Widerstandsgeschichte
# Aus der Gemeinde ...
Die Weihnachtsgeschichte als Widerstandsgeschichte
Haben Sie sich schon einmal überlegt, was für ein seltsames Fest Weihnachten eigentlich ist? Es ist vermutlich das größte Fest der Menschheit. Und worum geht es? Um eine Teenagerin, die unter prekären Bedingungen ein uneheliches Kind bekommt.
Die Weihnachtsgeschichte, so wie sie in der Bibel steht, ist ganz offensichtlich kein Tatsachenbericht. Dazu gibt es viel zu viele Ungereimtheiten in ihr, nicht nur die Jungfrauengeburt. Auch die Regierungszeiten von Augustus, Herodes und Quirinius lassen sich mit dem Geburtstermin nur schwer in Einklang bringen. Und wenn die römischen Behörden tatsächlich so dumm gewesen wären, für eine Volkszählung die ganze Bevölkerung durchs Land zu schicken, wären sie nie in der Lage gewesen, ein funktionierendes Imperium aufzubauen. Dazu kommt die verstörende Tatsache, dass die ersten Christen die Geburt von Jesus überhaupt nicht interessiert hat. Der älteste Bericht über Jesus, das Markus-Evangelium, beginnt, als Jesus schon 30 Jahre alt ist. Auch das Johannes-Evangelium interessiert sich nicht für seine Geburt. Und Paulus, dessen Briefe noch älter sind als die Evangelien, stellt schlicht fest, dass Jesus von einer Frau geboren wurde, also ganz normal auf die Welt gekommen ist und nicht wie ein Gott vom Himmel herabgestiegen. Nur Lukas und Matthäus lassen ihre Berichte über Jesus mit seiner Geburt beginnen, aber auch ihre Geschichten passen nicht wirklich zusammen. So wird bei Matthäus Jesus in einem Haus geboren und nicht in einem Stall. Warum also schreiben die beiden Geburtsgeschichten auf, nachdem sich die anderen gar nicht dafür interessiert haben?
Darauf gibt es eine einfache Antwort: Man brauchte in der antiken Welt eine spektakuläre und überirdische Geburtsgeschichte, um ernstgenommen zu werden. Wer nicht von irgendeinem Gott abstammte, musste erst gar nicht den Mund aufmachen. Von Alexander dem Großen waren Münzen im Umlauf, die zeigen sollten, dass er ein Sohn des Zeus ist, und von Julius Cäsar Münzen, dass die Göttin Venus ihn zur Welt gebracht hat. Auch von Kaiser Augustus wurde behauptet, dass Apollo sein Vater sei.
Wer damals angesagt war und etwas zu sagen hatte, war nicht auf Instagram oder Twitter, sondern auf Münzen. Münzen waren das Twitter der antiken Welt. Und über Münzen posaunten die Herrscher der Welt heraus, dass sie göttlicher Abstammung waren. Wenn die ersten Christen also wollten, dass die Menschen Jesus und seinen göttlichen Anspruch ernst nahmen, wenn sie wollten, dass sie auf das hörten, was er gesagt und getan hatte, dann brauchten sie eine spektakuläre Geburtsgeschichte. Die Weihnachtsgeschichte von Lukas erfüllt dieses Bedürfnis – aufgeladen mit politischer Bedeutung, himmlischen Ankündigungen und einer Jungfrauengeburt. Und sie unterläuft es zugleich. Jesus wird nicht in einem Palast geboren, auf goldgewirkten Kissen, sondern im Dreck eines Viehstalls, und es sind die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die ihm huldigen und denen Gott seinen Frieden und große Freude verkündet. Um die Weihnachtsgeschichte zu verstehen, muss man mit der Gegend beginnen, in der sie spielt: Israel und Judäa waren und sind wahrscheinlich einer der blutigsten Landstriche, die es in der Geschichte der Menschen je gegeben hat, was an der geostrategischen Lage liegt. Durch diesen kleinen Landstreifen am östlichen Mittelmeer mussten alle durch, die auf dem Landweg von Europa oder Asien nach Afrika wollten und umgekehrt. Und die Großmächte der antiken Welt haben mit ihren Truppen davon regen Gebrauch gemacht.
Nach der Bibel hat der legendäre König David durch seine Eroberungen Israel 40 Jahre Stabilität und Frieden gesichert. Aber bereits unter seinem Sohn Salomon zerfällt das Reich wieder. Und die meiste Zeit war Israel in wechselnder Folge von fremden Großmächten besetzt, am Ende von den römischen Truppen, die den Soziopathen Herodes als ihren Marionetten-König einsetzten. Die Römer waren für ihre Brutalität berüchtigt, für ihre Arena-Kämpfe, die Kreuzigungen – und ihre Steuern. Die Steuerlast betrug in Israel 90 %. Was übrig blieb, war zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung betrug 40 Jahre, und Kreuzigungen waren eine übliche Hinrichtungsmethode für entlaufene Sklaven und Aufständische. Nach einem Aufstand ließ Pontius Pilatus – der an Karfreitag seine Hände noch in Unschuld wäscht – 2000 Menschen auf einmal kreuzigen. Der römische Friede war ein Friede für Menschen mit römischem Bürgerrecht. Für die unterworfenen Völker am Rande des Imperiums war er Terror. In den 100 Jahren vor und nach Jesu Geburt gab es in Israel 66 bewaffnete Aufstände. Viele davon müssen von Verzweiflung getrieben gewesen sein. Das bedeutet: Die Geschichten des Neuen Testaments spielen in einer traumatisierten Gesellschaft, in der Eltern mit ansehen mussten, wie sich ihre Kinder aus Verzweiflung radikalisierten und in einen Guerilla-Kampf gegen die größte Militärmaschine der damaligen Welt zogen, den sie nicht gewinnen konnten. Und die Römer brannten im Gegenzug ganze Dörfer und ihre Einwohner nieder. Und auf einmal bekommt diese Geschichte ein anderes Gewicht: Die Volkszählung, die die Römer veranstalten, um die Steuern zu erhöhen, der neue König, der aus dem Geschlecht Davids stammt, der Frieden, den die Engel verkünden, der Heiland, der geboren wird. Auch »Heiland« war ein römischer Herrschaftstitel. Nicht nur, dass die römischen Kaiser der Meinung waren, sie seien Götter, vermutlich dachten sie auch, sie hätten den Friedensnobelpreis verdient.
Normalerweise wird die Geschichte von den Siegern geschrieben, von denen, die sich auf Münzen verewigen. Die Weihnachtsgeschichte ist eine Widerstandsgeschichte. Und Jesus, der Nachkomme des legendären König Davids, der von Gott gesandte Retter und Heiland, ist so ganz anders als alle ihn erwarten. Er sammelt keine Truppen um sich, sondern Schüler. Jesus zieht nicht in den Krieg. Er durchbricht die Spirale der Gewalt. Er fordert seine Anhänger auf, für die zu beten, die sie verfolgen. Er macht die Hungrigen satt. Er befreit die Traumatisierten von ihren Dämonen. Er gibt denen, die sich längst aufgegeben haben, neue Hoffnung und neuen Mut. Und am Ende lässt er sich lieber selbst zu Tode foltern, als andere in den Tod zu schicken. Dass er der Messias ist, der von Gott gesandte Retter und König, bestätigt er öffentlich erst, als er sich schon in den Händen seiner Peiniger befindet und keiner seiner Anhänger mehr auf die Idee kommt, für ihn in den Krieg ziehen zu wollen.
Und eine steigende Anzahl von Menschen erkennen, dass in Jesus Gott am Werk ist, dass in ihm Gottes Widerstandskraft und Gottes Wille in einzigartiger Weise präsent sind, und er bekommt einen neuen Titel: Sohn Gottes. Trotzdem bleibt die Frage, wieso eigentlich Weihnachten das größte Fest der Christenheit wurde und nicht Ostern mit der Auferstehung? Hätte das nicht viel näher gelegen? Dass Weihnachten das wichtigste Fest der Christenheit wurde, liegt an dem Glauben, dass in Jesus Gott sichtbar wird. Und wenn Gott in Jesus anwesend war, auch wenn Jesus ein richtiger Mensch war, dann stellt sich die Frage, wie diese Verbindung zustande kommt. Auch dazu gibt es in der Bibel unterschiedliche Theorien. Im ältesten Bericht über das Leben Jesu, im Markus-Evangelium, wird Jesus bei seiner Taufe im Jordan als Erwachsener sozusagen von Gott adoptiert. »Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe,« sagt die Stimme aus dem Himmel. Das war die damals gängige, offizielle Adoptionsformel. Und der Geist Gottes kommt wie eine Taube aus dem Himmel herab und bleibt bei Jesus.
In den Weihnachtsgeschichten von Lukas und Matthäus dagegen verbindet sich Gott schon in der Schwangerschaft mit Jesus. Und Paulus und Johannes gehen sogar noch einen Schritt weiter: Wenn Gott in Jesus präsent ist, dann muss Jesus schon immer ein Teil Gottes gewesen sein so wie der Heilige Geist, präexistent, wie die Theologen sagen. Und das bedeutet: Jesus war in seiner göttlichen Gestalt schon bei der Erschaffung der Welt dabei. Das klingt für unsere Ohren vielleicht ein bisschen steil – und das ist es auch. Aber wenn Jesus schon immer ein Teil Gottes war, wie es die Lehre von der Dreieinigkeit besagt, dann ist seine Geburt der Augenblick, in dem Gott im wahrsten Sinne des Wortes zur Welt kommt. Genau das ist es, was viele Weihnachtslieder besingen: Dass Gott vom Himmel herabkommt und Mensch wird. Und das verändert unsere Art, Gott zu denken, radikal.
Normalerweise sind Götter die Götter der Sieger und Helden, die Götter der Pharaonen und Cäsaren, die Götter der Münzen- und Twitter-Typen. Der Gott der Bibel ist anders. Das zeigt sich schon im ersten Teil der Bibel. Er befreit eine Gruppe Sklaven des ägyptischen Pharaos und gründet mit ihnen einen neuen Stamm, der nach anderen Regeln leben und in dem niemand mehr versklavt werden soll. Das funktioniert nur bedingt, und das nicht nur, weil Israel sich ständig in der Gewalt fremder Mächte befindet. Jetzt geht er einen Schritt weiter und kommt selbst. Gott kommt als Mensch zur Welt, weil er unser Herz erreichen will. Darum geht es dabei. Der allmächtige Gott, der den Urknall gezündet hat, diese unvorstellbare Zusammenballung von Materie und Energie, aus der die 70 Trillionen Sterne geworden sind, von denen wir wissen, der alles Leben geschaffen hat – die Energie hinter allem, kommt als wehrloser Mensch zur Welt, weil sie unser Herz erreichen will. Gott legt seine Macht ab, damit wir seine Liebe sehen können und die Traumatisierten wieder Hoffnung schöpfen können.
Gott kommt zur Welt in einem Stall, in einem der geschundensten Teile unseres Planeten, kommt zur Welt in einem 14jährigen Mädchen, das bereit ist, ihm zu vertrauen. Und er stellt klar, was in der Welt wirklich zählt: Liebe, Hingabe, Vergebung, Friedfertigkeit, Hoffnung und Vertrauen. Er wird das letzte Wort haben. Das alles feiern wir an diesem seltsamen und wunderbaren Fest, das zu Recht das größte Fest der Menschheit ist.
Ihr
Pfarrer Jean-Otto Domanski
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