Utopie und Realität

Utopie und Realität

Utopie und Realität

# Tageslosung mit Auslegung

Utopie und Realität

Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein liebes Kind? Denn sooft ich ihm auch drohe, muss ich doch seiner gedenken; darum bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, spricht der HERR.
(Jer 31,20)

Lehrtext:
Als der Sohn noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
(Lk 15,20)


»Auf dem Bord über Renate Puchls Bett steht eine Erinnerung an gute Tage: eine gläserne Schneekugel, die ihr Sohn ihr vor vielen Jahren zum Muttertag geschenkt hat. Schüchtern, liebenswert und folgsam war Andreas als Kind. Jetzt ist er 43 und im Gefängnis. Seit 19 Jahren schon. Er ist ein Raubmörder. Sehen wollte sie ihn nie wieder, nicht beim Prozess, nicht im Gefängnis. Und als ein Anwalt Geld von ihr wollte, um ihn zu verteidigen, gab sie ihm keins. ›Ich hatte keins‹, sagt sie, ›und ich wollte auch nicht, dass er rauskommt. Ich hatte Angst, dass noch was passiert. Ich hab‘ zu dem Anwalt gesagt: ,Lassen Sie ihn drin.‘‹

Puchl, 61, Angestellte in einer hessischen Textilreinigung, hat den Kontakt zu ihrem einzigen Sohn abgebrochen. Sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben, auch nicht, wenn er rauskommt – solange sie sich nicht sicher ist, dass er ›zu hundert Prozent‹ vernünftig geworden ist. Zu viel hat er ihr angetan. Nach der Tat musste sie Valium nehmen, sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Den gleichen Nachnamen wie ein Mörder zu tragen, das führte in der Kleinstadt, in der die Tat geschehen war und in der sie lebte, zum gesellschaftlichen Ausschluss. ›Es war die Hölle‹, sagt sie. ›Er hat ja nicht nur sich selbst was angetan, sondern der ganzen Familie.‹«

(HUMMEL, K.: Du gehörst nicht mehr zu mir. Kinder und Eltern ohne Kontakt, FAZ 22.02.2014; online unter: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kinder-und-eltern-ohne-kontakt-du-gehoerst-nicht-mehr-zu-mir-12815945.html)

Was beschreiben die biblischen Texte da? Eine Utopie? Und die Realität kann ich im Artikel aus der FAZ lesen? Wissen denn die Verfasser_innen der Texte aus dem Ersten und Zweiten Testament nicht, wie die Realität zuweilen aussieht?

Nun, ich würde sagen, doch: sie wissen um die Realität. Sie wissen, wie schwierig manch ein Verhältnis zwischen Kindern und Eltern sein kann. Und genauso wissen sie, wie positiv und voller Liebe Eltern mit ihren Kindern umgehen und Kinder mit ihren Eltern. Denn über zwischenmenschliche Beziehungen berichten die Texte der hebräischen und griechischen Bibel immer wieder.

Aber noch viel häufiger steht die Beziehung Gottes zu den Menschen im Fokus: So ist hier im Zitat aus Jer 31 von Gott die Rede. Und auch in Lk 15 spricht Jesus in Gleichnissen von Gott. Beide erzählen von Gottes Liebe zu den Menschen, die so groß ist wie die Liebe einer Mutter oder eines Vaters. Ja, mehr noch: Sie geht darüber hinaus und unterliegt nicht den menschlichen Höhen und Tiefen. Gottes Liebe ist keine Utopie, sondern eine Wirklichkeit. Der Prophet Jeremia und Jesus im Lukas-Evangelium erzählen von ihren Erfahrungen mit Gott und machen klar, wie unverbrüchlich Gottes Liebe zu uns Menschen ist. Und sie wollen mein, unser Vertrauen stärken in Gott, den die Bibel selbst als Liebe beschreibt: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. (1Joh 4,16)

Vikar
Sebastian Gebauer

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