#niewieder

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# 5mal um 11

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Nimm dir eine Tasse Tee, etwas Ruhe und Zeit und lies einen kleinen Auszug aus Ruth Winkelmanns ganz persönlichen Zeugnis aus der Zeit des Nationalsozialimus  bewegend, berührend... 

21.April 1945

...Wenn alle über die Russen geschimpft haben, dann hab ich immer gesagt: " Kinder, es gibt unter den Russen genauso unterschiedliche Menschen, wie's bei uns unterschiedliche Menschen gibt. Man kann nicht das ganze Volk mitverantwortlich machen für seine Regierung. Man kann ja auch nicht ganz Deutschland verantwortlich machen für so einen schwachsinnigen Adolf Hilter."

Die ganze Nacht Dauerbeschuss. Ich hab mich mit Mutti ganz hinten ins Eckchen verkrochen, erste Etage, unser Stammplatz. Sie hat auf einer alten Munitionskiste gehockt, ich diesmal auf dem Verbandskasten. Im Bunker natürlich ohne Stern. Der Aufenthalt ist für Juden verboten. Aber der Splittergraben hinter unserer Laube hält einfach nichts aus. Den hat Leo Lindenberg mit dem Sparten ausgehoben, mit Balken abgestützt, ein bisschen Sand drübergestreut. Wenn da eine Bombe drauffällt... Ich will gar nicht darüber nachdenken. Zum Überleben müssen wir in den Hochbunker. Hier in der Wittenauer Straße haben sie auch noch nie kontrolliert. Zumindest nicht, wenn wir da waren. Na, und jetzt ja sowieso nicht mehr. "Der Iwan steht schon in Lübars", hat einer der Volkssturmmänner geflüstert. "Dauert nicht mehr lange, dann sind sie am Reichstag. Und dann is aus mit'm Krieg" Laut darf man so was noch nicht sagen. An Schlaf war diese Nacht  nicht zu denken... Morgens harren wir Hunger. Inzwischen kein Beschuss mehr, sondern Friedhofsruhe draußen. Viel Geruschel im Bunker. "Ich hol uns was zu essen aus der Laube", hab ich zu Mutti gesagt. Es ist ja nicht weit, und ich kann schneller rennen als sie. Auf dem Herd standen noch rote Rüben, angedickt mit Hafermehl. Das schmeckte nicht besonders, würde uns aber den Magen füllen. Ich hab zwei Henkelmänner vollgemacht. Dann bin ich schnell wieder los. Die Straße liegt da wie ausgestorben. Aber das Schießen hat wieder angefangen, diesmal keine Stalinorgeln, sondern kleinere Geschütze. Die Geräusche sind mir vertraut. Dazu nähert sich tiefes Motorbrummen. Ich kneife die Augen zusammen. Tatsächlich! Da kommen russische Panzer! Nicht gut. Ich muss ihnen entgegen, wenn ich in den Bunker will. Gar nicht gut! Ich klemme die Essnäpfe unter die Arme. Laufe wie ein Hase. Sehe eine deutsche Uniform vor der geöffneten Stahltür, eine winkende Hand. Renne, renne,renne. Hier sind deutsche Soldaten versteckt und verschanzt, die uns verteidigen. Auch mich, ohne Stern. Vor mir rennt eine Frau, neben ihr ein Junge. Die Panzer werden immer lauter, immer größer. Die Hand aus dem Bunker winkt jetzt noch dringlicher. Sie wollen die Stahltür schließen. Ich werde es nicht über den Platz schaffen! Das Dröhnen wird ohrenbetäubend. Dann plötzlich ein Rattern. Sie schießen auf mich! Da reißt mich jemand zurück. Die Essnäpfe fest unterm Arm, werde ich in ein Erdloch geschleudert. Der Soldat wirft sich über mich. "Runter!" zischt er, drückt mein Gesicht auf ein welkes Grasbüschel, das in die Grube gerutscht ist. "Nicht bewegen!" Dicht neben meinem Ohr geht ein keuchender Atem. Über uns ein Dröhnen und Kreischen, ein Röhren und Qualmen. Der Panzer tanzt. Er dreht sich und wiegt sich, zig Tonnen schwer, immer auf derselben Stelle. Genau dort wo das andere Loch ist. Dort, wo der andere Soldat liegt, der die Frau mit dem Jungen an sich gerissen hat. Ich hab es beobachtet, als ich selbst schon in die Grube flog. Ich weiß, was da gerade passiert. Jetzt hört das Qualmen auf. Der Panzer rührt sich nicht mehr obwohl der Motor immer noch dröhnt. Mein Beschützer lässt mich nicht los. "Ganz ruhig", sagt er direkt in mein Ohr. "Bloß nicht bewegen!" Ich könnte gar nicht, selbst wenn ich wollte. Allenfalls schreien. Aber ich bin nicht lebensmüde. Der Motor heult in schnelle, Rhytmus die Sekunden, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Jede Silbe ein Schlag. Im Kopf ballt sich die Angst. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Plötzlich erneutes Kreischen. Das Dröhnen schwillt an. Und er fährt weiter. Entfernt sich von uns. Verliert uns aus dem Blickfeld. "Jetzt aber los!" Der Soldat stellt mich auf die Füße, schiebt mich an. "Mach, dass du in den Bunker kommst!" Ich renne wieder. Fliehe vorbei an der Frau mit dem Jungen und an dem Soldaten, alle drei sind tot.. Sind zermalmt. Ich presse die Essnäpfe vor meine Brust. Sehe Mutti an der Bunkertür. Stolpere noch im letzten Augenblick und werde hineingezogen in den dunklen Gang, den Schutz aus meterdickem Beton. Habe ein weiteres Mal überlebt. Hinter uns wird die Stahltür zugemacht. "Mensch, Ruthchen, und ich dachte schon..." Mutti streicht mir über die Haare, die Wangen, nimmt mich in den Arm. Wir essen unsere Rüben. Mutti hockt auf der Munitionskiste, ich auf dem Verbandskasten. Wir warten. Die Stimmung im Bunker ist schlecht. Das Geruschel wird schlimmer. Sie sind Barbaren, diese Russen! Sie rauben, morden, brandschatzen! Vergewaltigen deutsche Frauen! Es ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Wir sitzen da und warten. "Ich halt das nicht aus", sagt Mutti "ich geh zurück in die Laube" Aber da sind wir nicht sicher..." "Das ist mit egal, Ruth!" Sie steht auf, streicht sich den Rock glatt. "Lass uns gehen!" Ich spüre die Blicke, die uns folgen. Sehe religiöse Frauen dicht an dicht auf den Bänken sitzen, etliche mit Kindern auf dem Schoß. Fahle Gesichter. Verweinte Augen. Gerade als wir ins Freie treten, kommen die ersten russischen Fußsoldaten. Noch sind sie weit genug entfernt. Es ist nur ein kurzer Blickkontakt, dann laufen wir, Mutti und ich. Über das Kraterfeld, die Straße entlang. "Die wollen in den Bunker", ruft sie. "Gut, dass wir da weg sind!" Aber hier sind wir auch nicht sicher. Nicht, dass die auf uns schießen! "Wir gehen zum Lager", ruft Mutti. "Hast du deinen Ausweis? Vielleicht helfen uns die Fremdarbeiterinnen." Vor dem Gelände stehen keine Wachposten mehr. Das große Tor klafft auf, hängt an einer Seite schief, als wäre der Flügel aus den Angeln gerissen. Keine deutsche Uniform weit und breit. Wir treffen nur plonische Fremdarbeiterinnen, die noch immer das aufgenähte Kennzeichen auf der Bluse tragen, die die Nazis ihnen verordnet haben, ein auf der Spitze stehendes Quardrat mit einem großen P, violette Linien auf gelbem Grund. "BItte" Ich halte eine der Frauen am Ärmel fest. Sie legt den Kopf schief: mustert mich misstrauisch. "Wir wohnen da drüben" Ich deute auf die Laube gleich hinter dem Stacheldrahtzaun und dem schmalen Weg. Bei Leo Lindenberg." "Leo Lindenberg?" neugierige blaue Augen folgen meinem Finger. Dann hellt sich die Miene auf. "Ah Leo!" sagt die Frau, streicht sich das blonde Haar aus der Stirn und lächelt. "Natürlich! Wir kennen Leo." Was auch immer das bedeuten mag. Meine Hand fährt in die Tasche, holt den gelben Stern hervor und die Kennkarte, die ich so hasse. Ruth Sam Jacks steht da. "Das bin ich." "Oh..." sagt die blonde Frau. "Bitte, könnten Sie etwas für mich aufschreiben? Auf Russisch wenn's geht. Oder zur Not auf Polnisch..." Inzwischen hängt der verhasste gelbe Stern vorn am Gartentor. Die blonde Polin hat ihn dort angenagelt, und darunter einen handgeschriebenen Zettel, den ich nicht lesen kann. Aber die Russen können. Und die Deutschen sehen den Stern. Das genügt hoffentlich. Stern und Text hängen am Pfosten wie eine Visitenkarte. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Jetzt wissen es alle. Jeder, der vorbeigehe, ziehe seine Schlüsse. Das Versteckspiel hat ein Ende. Ich muss nicht mehr lügen, keine Legenden mehr erfinden. Ich bin wieder ich. Stehe am Fenster unserere Laube, aber seitlich und so versteckt hinter der Gardine, dass die beiden russischen Soldaten nicht mal einen Schemen von mir erahnen können. Der eine liest, während der andere seinen Blick schweifen lässt. Auf die Nachbarlaube, das Fremdarbeiterlager und den Sandweg, auf dem seit heute morgen ein toter Schäferhund liegt. Jetzt streckt der eine Russe die Hand aus, streicht mit dem Rücken des Zeigefingers über die Stirn. Hat plötzlich Trauer im Blick. Und Nachdenklichkeit. Jetzt hebt er den Kopf, kneift die Augen zusammen- und blickt mir direkt ins Gesicht. Der Schreck lässt mich zusammenzucken. Nein, nein, er kann mich nicht sehen. Er sieht nur das Fenster und die Gardine. Sie reden miteinander, die beiden Soldaten. Der eine hebt die Hand. Es kommt mir vor wie ein Abschiedsgruß. Dann gehen sie weiter. Wachsam. Angespannt. Mit schussbereiten Waffen. Mich lassen sie in Ruhe.


Was dann passiert, müsst ihr selbst lesen. Ruth Winkelmann hat ihre Erlebnisse in einem Buch festgehalten. Fühlt euch eingeladen, das Buch zu lesen, es ist ein Teil unserer Geschichte, an die wir an diesem heutigen Tag gedenken.

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