Labyrinth

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# Pfarrerin Gorgas denkt ...

Labyrinth

»In den Kreisverkehr einfahren und dann die vierte Ausfahrt Richtung Chartres!« Die freundlich den Ton angebende Stimme des Navigationsgerätes weiß den Weg. Dennoch sitze ich mit einer Landkarte auf dem Schoß im Auto. Sicher ist sicher. Ich habe gelernt, dass die kürzeste Entfernung selten der kürzeste Weg ist. Und dass ich trotz aller technischen Hilfs- und Wundermittel immer noch ganz allein erkennen muss, in welche Himmelsrichtung ich mich bewege. Das ist manchmal kompliziert genug. Doch heute ist ein unbeschwerter Urlaubstag mit guter Laune und einem von mir sehnlich erwarteten Tagesziel. Amüsiert lausche ich dem Navi. Alle Wörter werden so ausgesprochen, wie sie geschrieben werden, damit sich auch Wegsuchende wie ich in fremder Sprache zurechtfinden. Der Kreisverkehr ist gemeistert, bald werde ich da sein.

»Da kommst du sowieso nie hin.« Wie oft habe ich diesen Satz gesagt und gedacht. Vor langer Zeit in einer anderen Zeit. Ich habe ihn auch gedacht während der Vorlesung im Fach christliche Kunst und Archäologie, als die Dozentin das nächste Dia in den Projektor schob und es das Wort PowerPoint noch gar nicht gab. Ich habe ihn gedacht als ich das Bild einer wunderbaren Kirche sah und immerhin schon so weit war, den Baustil der Gotik zuordnen zu können.

»Die Kathedrale von Chartres ist Vorbild für viele weitere Kirchen in der Welt und in ihrem Inneren befindet sich ein Labyrinth.« Die Ausführungen der Dozentin gingen enthusiastisch weiter, ich tuschelte lieber mit meiner Nachbarin. Wozu sich beschweren mit Informationen, die ich sowieso nicht in Augenschein nehmen konnte? So dachte ich in meiner jugendlichen Einfalt.

Wahrscheinlich ist mir dabei ein Bild der Kathedralenrosette entgangen und auch die Tatsache, dass der Durchmesser des großen Kirchenfensters genauso groß wie der Durchmesser des Labyrinthes ist. Damit sollen der Zusammenhang und die erbetene Deckungsgleichheit von Himmel und Erde deutlich werden.

Ich meinte, die Bilder hätten nichts mit meinem Alltag zu tun und lief deshalb lange Zeit weiter dem Irrglauben nach, Theologie und richtiges Leben seien verschiedene Dinge. GOTT sei Dank wurde ich eines wirklich und wahrhaftig Besseren belehrt. Und frommen Menschen auf meinem Lebensweg sei Dank, konnte ich es irgendwann drehen und wenden, wie ich wollte, ich kam an einem theologischen Alltag nicht mehr vorbei, ganz gleich in welche Richtung ich mich bewegte.

Und dann war auch der Weg nach Chartres frei, und ich konnte endlich zugeben, dass die Bilder und Geschichten, die ich von dieser Kirche gesehen und gehört hatte, längst mein Herz erreicht hatten.

Endlich würde ich sagen können: »Einmal den Weg des Labyrinthes von Chartres unter die Füße nehmen, und an die vielen denken, die das vor mir getan hatten. Die Mönche, die Pilger, die Touristen, die Zweifelnden, die Tanzenden, die Suchenden.« Einmal auf die Mitte zulaufen und merken, dass der Weg noch lange nicht zu Ende ist, wenn das Zentrum zum Greifen nah scheint. Einmal weit entfernt vom Ziel stehen und spüren, dass es nur noch ein winziger Schritt ist, der die Freude vollkommen werden lässt. Einmal erfahren, dass ein Labyrinth eben gerade kein Irrgarten ist, aus dem nicht mal ein roter Faden hilft, sondern dass der Sinn eines Labyrinthes darin besteht, immer anzukommen und immer dem HERRN zu begegnen.

Und dann bin ich endlich da. Und es ist alles anders. Die Schönheit der Kathedrale überwältigt mich. In Stein gemeißeltes Leben. Da ist z.B.  Pythagoras. Seinen Satz habe ich noch immer nicht wirklich verstanden, aber wie er in Chartres dasitzt und rechnet, das ist einfach nur stimmig.

Die Monate und ihre Arbeit sind ebenso kunstvoll gestaltet wie die Sternzeichen. Leben und Alltag von Generationen. Und die Heiligen Drei Könige könnten wirklich so das Kind in der Krippe beschenkt haben. Und dann dieses Licht, das Licht der Auferstehung. Von außen unscheinbar, von Innen ein einziges Leuchten. Kongruenz von Himmel und Erde. Sehen und glauben.

Ach ja, das Labyrinth. Ich bin es nicht gelaufen vom Anfang bis zur Mitte. Es ging nicht. Stühle standen auf einem Teil des Weges. Die Mitte war frei. Am Abend sollte ein Konzert sein. Ich akzeptiere diese Wendung in meinem Plan. Knapp neben dem Zentrum stehend, schaue ich rundherum. Ich bin angekommen und doch wieder nicht so, wie ich es gedacht hatte. Es ist gut so. Auf der Rückfahrt wieder in den Kreisverkehr. Mit Navi und Landkarte. Mit Chartres und seiner Kirche im Herzen.

Ihre
Pfarrerin Barbara Gorgas


(Foto: Wikimedia | MMensler)

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