02/07/2024 0 Kommentare
Sprachlerntagebuch
Sprachlerntagebuch
# Pfarrerin Gorgas denkt ...
Sprachlerntagebuch
Nun, fast am Ende des Tages, nimmt sie auch das letzte Buch aus dem Regal: „Bitteschön, dein Sprachlerntagebuch bekommst du jetzt mit nach Hause, du bist ja bald ein Schulkind.“
Sie gibt das Buch aus der Hand, sie gibt in diesem Moment das Kind aus der Hand. Sie kennt diesen Moment. Jedes Jahr neu ist er Grund zur Freude für sie. Jedes Jahr neu ist da auch dieses Gefühl, das die Generation vor ihr mit dem Wort Wehmut beschrieben hat, aber das Wort ist aus der Mode gekommen, es gehört nicht mehr zum Wortschatz eines modernen Menschen. Aber das Gefühl ist da und bleibt. Wieder ist ein Jahr vergangen. Wieder verlassen Kinder diesen Ort, um an anderem Ort weiter zu leben.
Der andere Ort heißt Schule und manche Menschen reden immer noch davon, dass der Kindergarten auf die Schule vorbereitet und die Schule dann auf das Leben. Dabei weiß doch wirklich jedes Kind, dass sich niemand auf das Leben vorbereiten kann, weil es einfach stattfindet und GOTT sei Dank weitergeht.
Sie setzt sich auf einen der Stühle, die viel zu klein für sie sind, aber jetzt spürt sie keine Rückenschmerzen. Wie werden ihre Kinder zurechtkommen im neuen Umfeld, wie es so schön heißt? Sie lässt ihre Gedanken wandern, sieht die kleinen Menschenkinder vor sich. Sieht ihre fünfjährigen Biographien. Sie hört die Kinder sprechen. Wie oft hat sie lachen dürfen über herrliche Wortschöpfungen. Wie oft hat sie schmunzeln dürfen über logische Sprachbildungen, die leider falsch waren. Wie oft ist ihr fast das Herz stehengeblieben, wenn sich die Kinder mit Worten bekämpften, die niemals ihrer Kinderphantasie entsprungen sein konnten, sondern vom Gewaltpotential Erwachsener zeugten.
Doch nun ist ihre Arbeit getan, das letzte Bildungsinterview geführt, die letzte Seite eines jeden Sprachlerntagebuches ausgefüllt. Sie muss die Kinder ziehen lassen. Sie denkt an das Ziehenlassen und sie denkt an sich als Erzieherin. Ausgebildet, selbst einmal erzogen worden, unverwechselbar eingeschrieben ins Leben. Ihre Biographie schreibt nun an den Biographien von Menschenkindern mit. Manchmal erschrickt sie vor dieser Verantwortung.
Sie sitzt auf dem viel zu kleinen Stuhl und sieht die Straße vor sich. Spürt den Staub und die Hitze. Hört das Geräusch des rumpelnden Gefährts. Auf dem Wagen ein kostbar gekleideter Mann. Er hält eine Schriftrolle in der Hand. Er liest. Er ist reich und deshalb ist Bildung kein Problem für ihn. Er ist erzogen worden zur Achtung vor der Muttersprache und dem Geschenk der Sprache überhaupt. Er weiß, was Bildung kostet.
Und plötzlich steht da der andere an seinem Wagen, wie aus dem Boden gewachsen. Er spricht ihn einfach an. Vom Straßenrand in den Schutzraum der Kutsche. Er stellt nur eine Frage. Sie wird die Geschichte voranbringen und die Welt des Gebildeten durcheinander. Die richtige Frage zur richtigen Zeit gestellt, kann Welten bewegen. Das ist immer noch so. „Verstehst du auch, was du liest?“ Und der gebildete Mann antwortet, wie ein gebildeter Mann, nämlich mit einer Gegenfrage. Er hätte auch einfach ja oder nein sagen können, aber dann hätte er zugeben müssen, dass da noch Fragen offen sind in seinem Leben, dass Bildung noch lägst nicht Weisheit bedeutet und dass das mit dem lebenslangen Lernen wohl ernster ist als gedacht. Also Gegenfrage: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“ Das ist wahrhaft geschickt gefragt, denn schuld sind immer die anderen, die Schule, die Kirche, der Staat. Philippus, der Mann an der Straße, nimmt seine Verantwortung ernst. Er nimmt seinen Auftrag ernst. GOTTes Engel hat ihn geschickt an diesen Ort, damit er einem Ebenbild GOTTes Erziehung und Herzensbildung schenken kann. Er begleitet den reichen Mann ein Stück des Weges.
Er spricht mit ihm. Er legt ihm die Schrift aus. Er leitet ihn an. Mit seinem eigenen Leben. Mit dem, was er verstanden hat von GOTTes Liebe in der Welt. Mit dem, was er erfahren hat an Kummer und Schmerz. Mit der Biographie von Jesus aus Nazareth. Bildungsstandards eben. Am Ende der Geschichte wird der Mann verstanden haben, was es heißt, mit GOTT unterwegs zu sein. Seine Fragen werden bleiben und seine Wissbegier wird gewachsen sein. Und dennoch wird erzählt, er sei seine Straße fröhlich gezogen. Angeleitet und erzogen. Das muss man erst einmal hinbekommen.
Sie sitzt auf dem viel zu kleinen Stuhl und fragt sich, woran es wohl liegt, dass die Geschichte vom Kämmerer aus dem Morgenland, in jeder Kinderbibel zu finden ist. Verstehen Kinder diese Geschichte? Und wer leitet sie an, aus den Geschichten der Kinderbibel die Lebensgeschichte gebildeter Erwachsener werden zu lassen? Wer ist dafür verantwortlich, dass das Sprachlerntagebuch des Glaubens weitergeführt wird? Immer die anderen? Die dafür Ausgebildeten? Nun tut ihr Rücken doch weh. Sie richtet sich auf. Nach der Sommerpause kommen neue Kinder. Sprachbegabt und neugierig. Gebildet von GOTT. Sie wird sich kümmern und sich in ihren Beruf rufen lassen. Sie wird bilden, erzählen, antworten, fragen - sie wird erziehen. Die Kinder und sich.
Ihre
Pfarrerin Barbara Gorgas
Kommentare